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Krokodile

1989 erschien im Programmheft 6/89 des Verlags der Autoren ein Artikel von Renke Korn, der eine Diskussion um die Zukunft des Hörspiels anstoßen wollte. Und dies auch tat, und zwar stärker als erwartet.

 

Die Hörspiel-Kunst oder Wer hört noch zu?

Um die Hörspiel-Kunst steht es gut. Die technischen, akustischen Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt, und Autoren und Regisseure nutzen sie.  Die Folge: ein Haufen experimenteller Hör-Texte und -Spiele, die Laute durch die neuentdeckten akustischen Dimensionen jagen, Echos verschieben und aus einem Wort herausholen, was nur so alles in ihm steckt.  Getrappel von links, Explosion von rechts und Wind von oben und Geflüster von unten, da ist der Hörer mitten unter den Heinzelmännchen und kriegt es mit der Angst zu tun, da kann das Opfer links stöhnen und der Mörder rechts hohnlachen - und der Hörer weiß, wie alles zusammenhängt.

"D a s  ist das wahre Hörspiel", sagen manche Hörspiel-Freaks, "das ist etwas absolut Eigenständiges, Rundfunk-Adäquates, hier wird etwas gemacht, was Buch, Theater, Film und Fernsehen so nicht machen können.  Diese Hörspiele sind wirkliche Hör-Spiele, die sind nur im Medium Funk möglich und nirgendwo sonst.  Ingeborg Bachmanns DER GUTE GOTT VON MANHATTAN können Sie zu einem Theaterstück umarbeiten, versuchen Sie das mal mit, sagen wir, Ronald Steckels CHINA PROJEKT.  Es geht nicht."  So sprechen auch einige Hörspiel-Dramaturgen und sind stolz darauf, Geburtshelfer einer so spezifischen Kunst zu sein, und beneiden ihre Kollegen von der Fernsehspielabteilung nicht mehr um ihr großes Publikum.

Denn Kunst und Massenwirkung, das konnte man ja noch nie gleichzeitig haben.  Doch ihre Intendanten, alarmiert vom Erfolg der Privaten, einschaltquotenfixiert, sehen das leider etwas anders, Kulturauftrag hin, Kulturauftrag her.

Es ist tatsächlich tragisch.  Während das Hörspiel noch nie so spezifisch, noch nie so originell, noch nie so innovativ war, sinkt das Hörerinteresse kontinuierlich und drehen die Gewaltigen der Rundfunkanstalten den Geldhahn zu.

Leider kenne ich kein statistisches Material, das die Diskussionsgrundlage für die Frage bilden könnte, wo die Ursachen des abnehmenden Interesses am Hörspiel liegen, worauf sich ja die Intendanten berufen, wenn sie die Hörspiel-Etats beschneiden.

Ich glaube, auch ohne statistisches Material kann man sagen: die Abwanderung zum Fernsehen ist zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund, denn offensichtlich hat das Interesse am Hörspiel in größerem Maße nachgelassen als das Interesse am Hörfunk überhaupt.  Es scheint ein direkter Zusammenhang zu bestehen zwischen der Entwicklung des Hörspiels zu einer "ganz spezifischen, originellen Kunst" und der Abnahme des Hörerinteresses.  Das Interesse der Hörer an akustischen Raffinessen und Eskapaden scheint begrenzt zu sein, begrenzt auch sein Geschmack am Spiel von Autor und Regisseur mit ihren subjektiven Empfindungen.

Das, was in Rundfunk, Fernsehen, Kino, Theater als Kunst angeboten wird, interessiert die Masse nicht, aber sie muß per Gebühren und Steuern dafür bezahlen. Ist es da nicht geradezu demokratisch, wenn Stadtparlamente beschließen, ihr Theater zuzumachen, und wenn Intendanten die Rundfunkgebühren lieber den Show-Gladiatoren zum Verbrauch überlassen als der Hörspielredaktion?

Natürlich  n i c h t .   Aber: ein Theater, das sein altes Publikum verliert und nicht in der Lage ist, durch konsequente Umgestaltung von Struktur und Spielplan ein neues zu gewinnen, gehört geschlossen.  Ein Hörspiel, das lediglich das subjektive Hirngerümpel eines Autors ausbreitet, der noch nie eine Fabrik von innen gesehen hat, braucht nicht gesendet zu werden.

Um das deutlich zu sagen: dies ist kein Plädoyer gegen das Ausprobieren neuer Formen.  Gegenüber einer sich fortlaufend wandelnden Wirklichkeit müssen die alten Formen der Darstellung ständig auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft und neue Formen gefunden werden.  Aber dies ist ein Plädoyer gegen eine Geisteshaltung, die sich  n u r  für die formale Innovation interessiert, gleichgültig welchen G e d a n k e n ,  welche  E r f a h r u n g  diese neue Form überhaupt  g e s t a 1 t e t  und ob dieses neuartige Projekt überhaupt  w i c h t i g  ist im Hinblick auf die Interessen und Probleme der Hörer.

Es geht da um ein Abwägen. Jedes Hörspiel - es mag sein, wie es will - wird sicher bei irgendwelchen Leuten Interesse wecken, und sei es nur bei fünfen.  Der Hörspiel-Lektor, -Dramaturg, -Kritiker, überfüttert, vermag nur noch das gut zu finden, was seine von tausenderlei Hörspielgenüssen tauben Ohren auf ganz neue, exqusisite, unerhörte Weise reizt.  Da findet er sogar auch mal Gefallen an einem Stück, in dem Knackis direkt zu Wort kommen, weil dies Dokumentarische, dieser Origina1-Ton mal so etwas ganz Anderes ist.  Aber, bitte sehr, auch solche Hörspiele mag er morgen schon nicht mehr hören, da muß wieder was Neues her.  Der Eskimo will ein anderes Kunstwerk als der Inder, der Arbeitslose ein anderes als der Beamte, der Automechaniker ein anderes als der Kritiker.  So zeitlos und allgemeinmenschlich ist unsere Seele nicht.  Die Fragen, die Autoren, Dramaturgen und Regisseure nicht vergessen dürfen, sind: Für wen will ich arbeiten?  Wen soll mein Hörspiel erreichen?  Und auch: soll es nur unterhalten oder soll es auch was bewirken?

Angesichts unserer Realität, die ja wahrlich nicht paradiesisch ist - welches Hörspiel ist da wichtiger?  Das Hörspiel, das, gemäß Jandl und Mayröcker, "mit seinen akustischen Mitteln den Hörer so total erfaßt, durchdringt und in einen entrückten Zustand versetzt, eine Reise nach innen ... ", oder das Hörspiel, das den Hörer mitnimmt auf eine Reise nach außen, in die Wirklichkeit der Faktoren, die sein Leben bestimmen und für ihn Freiheit oder Unfreiheit, Glück oder Leid bedeuten?

Noch einmal: das ist keine Entweder-Oder-Frage, sondern eine des Abwägens.  Ich bin zur Zeit Mitglied des Kuratoriums, das die Hörspieltage 1989 in Berlin vorbereitet.  Wir hören uns pro Woche ca. 3 Hörspiele an.  Es macht leider nur geringes Vergnügen.  Nicht wegen der Menge, sondern weil es so wenige Hörspiele gibt, die mir Menschen, Geschichten, ein Stück Welt erfahrbar und begreiflich machen.  Sehr blutleer und gleichzeitig unangenehm prätentiös sind viele.  Und ein Ahnen ist zu einer für mich erschreckenden Gewißheit geworden: es gibt so gut wie gar keine Hörspiele (mehr), die gesellschaftliche, politische Vorgänge reflektieren.

Das gilt seit einiger Zeit auch für unsere Fernsehfilme.  Prekäre Realität wird ausgeblendet.  Aber läge darin nicht eine Chance für das Hörspiel?  Das Hörspiel als  d a s  Forum der genauen, lebendigen, von Erfahrung gespeisten, zärtlichen, wütenden, provozierenden Auseinandersetzung mit unserer Wirklichkeit?

Ich bin dafür.

 

Dieser Artikel löste auf den Berliner Hörspieltagen, die eine Woche nach seiner Publikation stattfanden, sehr kontroverse Debatten aus. Der Leiter des Berliner Literaturhauses, wie Renke Korn Mitglied des fünfköpfigen Kuratoriums der Hörspieltage und ihm seit einer heftigen Auseinandersetzung um das Programm der Hörspieltage sowieso in herzlicher Abneigung verbunden, wanderte in den Tagungspausen von Tisch zu Tisch und sammelte Unterschriften für seinen Protestbrief an den Verlag der Autoren, in dem Renke Korn vorgeworfen wurde, sein Artikel sei “autorenfeindlich”, er werfe sich zum “Zensor” auf  und  er  “schmiege” sich an “sozialistische Literaturdoktrinen” an. Dieser Brief wurde im nächsten Programmheft des Verlags der Autoren veröffentlicht, und Renke Korn antwortete darauf in Heft 2/90 wie folgt:

 

Die wütenden Reaktionen einiger Teilnehmer der Hörspieltage auf meinen Artikel lassen zum einen vermuten, daß ich wohl Tabus verletzt, unangenehme Wahrheiten geschrieben und Besitzstände angegriffen haben muß, zum anderen, daß man sich vor lauter Aufregung nicht nur keine Mühe gemacht hat, meinen Text ernsthaft zu lesen, sondern ihn auch mißverstehen  w o l l t e .  Nur so läßt sich die Behauptung erklären, ich würde "genuine und innovative Kunstformen des Hörspiels" als subjektives Hirngerümpel bezeichnen!  Und welch bewußt platte und diffamierende Interpretation meiner Fabrik-Metapher und meiner Erinnerung an den Hörer und an den gesellschaftlichen Kontext jeder Kunst, wenn daraus gleich ein "Anschmiegen an sozialistische Literaturdoktrinen" gemacht wird!  Schublade auf und weg!  Aus meinem Text Kunst- oder Autorenfeindlichkeit herauszulesen, dazu bedarf es schon einer sehr merkwürdig verdrehten Denkweise, bzw. ist Ausdruck einer ziemlich miesen Art von Interessenpolitik, der auch das Mittel der Verleumdung des Gegners nicht zu schäbig ist, um die eigene Auffassung durchzusetzen.  Wenn meine Äußerung von Vorlieben und Abneigungen "Zensur" sein soll, dann "zensieren" Redakteure ununterbrochen, insofern sie Tag für Tag Manuskripte ablehnen, weil sie nicht nach ihrem Geschmack sind.  Weder kann noch will ich Zensor sein, wohl aber gern das Kind aus Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider".

Mein "Hirngerümpel"-Satz, der es manchem so angetan hat, klingt apodiktisch, was ich besser vermieden hätte, aber davon abgesehen ist er schlicht der Versuch, die Kriterien zu beschreiben, nach denen ich Hörspiel-Spreu von -Weizen trenne, und ihn als Angriff auf die Freiheit der Kunst zu bezeichnen, offenbart ein Differenzierungsvermögen, für das auch ein Baumstamm und ein Krokodil dasselbe sind.  Ich schreibe "subjektives Hirngerümpel" und nicht etwa "subjektive Gefühls- und Gedankenwelt".  Gerümpel, das bedeutet: verstaubt, ungeordnet, unbrauchbar, ausgedient.  Ins Literarische übertragen: irrelevant, überholt, wirr, ungestaltet. - "Noch nie eine Fabrik von innen gesehen" - das bedeutet: nur über sich selbst gebeugt, abgekapselt, schmales Wissen, ohne Anteilnahme, ohne Neugier.  Man verzeihe mir diese Erläuterung meines eigenen Textes, aber angesichts der Reaktionen scheint sie mir nötig.  Ich habe noch nie einen Dichter im Elfenbeinturm gesehen, trotzdem weiß ich, was gemeint ist, ich muß es nur wissen wollen.

Zum Vorwurf, ich hätte mich als Kuratoriummitglied zum "Zensor von Autoren” erhoben, noch ehe deren Arbeiten auf der Tagung vorgestellt und diskutiert wurden: Meinen Aufsatz habe ich geschrieben, bevor das Kuratorium überhaupt entschieden hatte, welche Werke in das Programm der Hörspieltage genommen werden sollten.  Er ist auch nicht mit Blick auf die Hörspieltage geschrieben worden.  Das Programm der Hörspieltage verantworte und trage ich voll mit, und es ist geradezu grotesk, aus meinem Erwähnen und Zitieren von Steckel, Jandl und Mayröcker eine Vor-Zensur zu konstruieren.

Diskussionswürdig an dieser abstrusen Polemik gegen meinen Text scheint mir nur zweierlei zu sein: erstens die implizite These, das Hörspiel verlöre keine Hörer, und zweitens das, worum es den Unterzeichnern wohl hauptsächlich geht und was im letzten Abschnitt der Erklärung zum Ausdruck kommt, des Pudels Kern, der Erhalt des Freiraums, des Subventionsnestes, das ich so schändlich beschmutzt habe.  An das Hörspiel können und dürfen nicht die Maßstäbe der Massenwirksamkeit und Rentabilität angelegt werden.  Aber es hat auch nicht das Recht, einer Spielwiesenmentalität zu frönen und die Hörer und ihre Interessen und die Gesetze des Hörens zu mißachten.  Gäbe es ein Publikum, das die Hörspielmacher etwa durch Entzug oder Hingabe von Eintrittsgeld bestrafen oder belohnen könnte, oder gäbe es eine kontrollierende Kritik, brauchten sie sich überhaupt nicht darüber zu streiten, was denn nun ein gutes Hörspiel ist.  Publikum und Kritik würden das - wie bei jedem anderen Kunstwerk auch - letztlich entscheiden.  Aber weil beides fehlt, hat sich in einigen Bereichen des Hörspiels eine Denkweise ausgebildet, die sich als avantgardistisch begreift, aber meiner Meinung nach eher das Gegenteil ist, insofern sie in ihrer Subventioniertheit und gleichzeitigen Gesellschaftsferne mit dem Wagnis wirklicher Kunst-Revolutionäre nur wenig zu tun hat und ästhetisch und politisch konservativ ist.  Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf Christoph Buggerts ausgezeichneten Vortrag "Muß das Hörspiel populär werden?", den er auf der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft 1985 gehalten hat.  Zur Situation des Hörspiels sagt er u.a.: "Das experimentelle Hörspiel bundesdeutscher Prägung tritt seit allzulanger Zeit auf der Stelle.  Es bemüht sich vorrangig um raffinierte technische Standards; intellektuell ist es oft von beschämender Schlichtheit.  Die Erneuerung der Gattung jedoch kann nur dann funktionieren, wenn beide Komponenten auf einen höheren Level getrieben werden.  Zu einseitig wird nach meiner Meinung auf die Erkundung neuer akustischer Erfahrungswelten gesetzt, auf den artifiziellen Ohrenschmaus, auf den radiophonen Hedonismus.  Der Gedanke hingegen, das genaue und kritische Argument, der bildnerische Sog des Hörbaren, die Ausdruckskraft der Sprache, all das wird meist vernachlässigt, wenn es um innovative Schritte geht."

In dem Bericht über die Hörspielwoche in der Berliner Akademie der Künste 1989 bestätigt Michaela Ort in der taz vom 9.11.89 diese Analyse: "Was deutlich wurde nach den drei Abenden: Das Hörspiel kümmert sich um das Hörspiel nicht, es weiß nicht von der inneren Dynamik von Texten, von einer dialogisch-dramatischen Struktur, von konkreter Musik, von Rezeptionszwängen und so fort.  Sein eigenes Territorium zu verlassen, ist ihm auch Avantgardebeweis.  Und noch eines wurde deutlich: Wenn das Müller-Goebbelsche Zugpferd nicht zieht, ist es eine Veranstaltung für Insider, und das erwünschte Publikum ist nicht da." Warum es nicht da ist, das ist zu fragen!  Und auch: Wie schaffen wir es, das Hörspiel wieder in die öffentliche Diskussion zu bringen, einen öffentlichen Raum herzustellen, in dem jedes neue Hörspiel auf seine Relevanz hin geprüft werden kann?  Deshalb brauchen wir noch mehr solche Veranstaltungen wie die Hörspielwoche in der Akademie der Künste in Berlin, wo Hörspiele sich vor Publikum bewähren müssen.

Das Hörspiel bedarf dringend neuer dramaturgischer Konzepte für eine überzeugende Verbindung von neuen Erfahrungen und Formen und gesellschaftlicher Relevanz.  Entweder gelingt es den Hörspielmachern, hier ihre innovative Kraft fruchtbar zu machen, oder das Hörspiel wird endgültig im Abseits verschwinden. Es nützt der Diskussion, die wir führen müssen, in keiner Weise, wenn man die als Kunst-, Experiment- oder Autoren-Feinde diffamiert, die vor einer zunehmenden Hörer-Ferne des Hörspiels warnen und nach Wegen suchen, Kunstanspruch und Akzeptanz zu verbinden.  Noch einmal meine Grundthese: die Gefahr, daß das Hörspiel verschwindet, halten wir nicht dadurch auf, daß wir die Sender gebetsmühlenartig an ihren Kulturauftrag erinnern und einen Kunst-Freiraum fordern, sondern indem wir durch gute, interessante Hörspiele Hörer halten und gewinnen.  Kein Mensch kann vom Hörspiel verlangen, daß es Dallas-Einschaltquoten erreicht oder wieder eine Resonanz wie in den "goldenen Fünfziger Jahren" findet.  Aber die Forderung, daß die Zahl der Hörspiel-Hörer wenigstens meßbar bleibt, halte ich nicht für a priori kunstfeindlich.  Wer sie nicht akzeptieren will, arbeitet für das falsche Medium.

 

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