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Walter Gödden
Outing als Befreiung
Renke Korns O-Ton-Hörstücke
“O-Ton-Hörstücke sind - wenn man mal von der immens wichtigen Bedeutung der richtigen Montage absieht - in der Regel Glücksfunde, auf die stößt, wer offene Ohren hat.” (Renke Korn)
Big Brother anno 1984? Eine Doku-Soap für Voyeure? Nein, in diesem Fall liegen die Dinge anders. Renke Korns O-Ton-Hörstücke sind kein Seelenstriptease für und vor Millionen von Gaffern. Ihre Stärke ist genau das Gegenteil, die Intimität. Korn versteht es, seine Protagonisten - überwiegend Alltagsmenschen - ganz nah vors Mikro zu bringen. Und sie beginnen zu reden über persönliche, allerpersönlichste Dinge, "frei von der Seele weg”. Das Outing wird zu einer persönlichen Befreiung, nicht unähnlich einer Situation beim Psychiater. Die sehr sensibel geführten Tonbandprotokolle sind Monologe, die unter die Haut gehen, gelegentlich auch schockieren, weil alles so direkt, ungeschminkt abläuft. Zugleich entstehen eindringliche Psychogramme und Milieustudien - komplexer als soziologische Untersuchungen je sein könnten. Kann man solche Aufzeichnungen über so lange Strecken wie eineinhalb Stunden verkraften? Man kann, und zu guter Letzt kann und will man sich der knisternden Spannung, die sich allmählich aufbaut, nicht mehr entziehen. Der Stoff, den die Realität abwirft, ist schillernder, anrührender und aufrüttelnder als jede Fiktion. Hier werden wahre, wahrhaftige Geschichten erzählt, wie sie nur das Leben schreiben kann.
Die Berliner Agentur »Pharos Medien« hat unlängst fünf O-Ton-Hörstücke Korns, die zuvor lediglich im Radio zu hören waren, in einer eigenen Edition herausgebracht. Die Veröffentlichung von Hörbüchern liegt heute im Trend, gleichwohl ist eine solche Serienproduktion die Ausnahme. Den Hörer kann's nur freuen, werden ihm auf diese Weise doch ungewöhnliche Produktionen abseits des Mainstreams offeriert. Zugleich zeichnen sich Konturen einer Werkchronologie Korns ab. Neben seinen Theaterstücken kann er inzwischen über zwanzig Hörspiele und zahlreiche Fernsehfilme für ARD und ZDF auf seinem kreativen Konto verbuchen.
Die früheste der genannten Produktionen ist »Das kalte Büffet der Perlons« aus dem Jahre 1984. Am Anfang war es nur eine fixe Idee. Eine fidele Damenrunde, alle zwischen 30 und 40, die sich gelegentlich zum Singen alter Schlager und zum Klönen trifft, fasst den Entschluss, ein Büffet auszurichten. Der besondere Clou: Jede Teilnehmerin muss einen fremden Mann mitbringen, den sie zuvor »aufgerissen« oder »abgestaubt« hat. Die Aktion soll in einem Dreivierteljahr starten, es ist also genügend Zeit zur Vorbereitung. Man malt sich das Ereignis bunt aus. Es wird geplant und vor allem viel gelacht. Doch je näher der Termin rückt, desto größer werden die Selbstzweifel. Bin ich (noch) schön (um Doris Dörrie zu zitieren)? Kann ich überhaupt noch flirten? Wie soll ich's anstellen? Wie werden die Männer reagieren? Ist man nicht längst über solche pubertären Spielchen hinaus? Angst vor der eigenen Courage stellt sich ein. Der Jux wird zu einer ernsthaften Nagelprobe für das oft schon mit Blessuren versehene Ego. Und dann wird alles, fast wider Erwarten, doch »ganz toll«. Man gabelt tatsächlich die Männer auf, und diese entpuppen sich als überaus nett. Man ist schnell beim Du, taut auf, hört Stones und Beatles, singt mit. Vor allem aber wird endlos »gequatscht« und getratscht. So ungezwungen, wie man sich kennen gelernt hat, geht man auseinander und ist doch ein anderer als zuvor. In einem Fall jedoch kommt es zu einem richtigen Happy-End. Eine neue Beziehung steht vor ihrem Anfang. Das Hörspiel lebt von der Unbefangenheit, mit der die Teilnehmer, Damen wie Herren, die Episode schildern. »Die Frauen sprudeln, elektrisieren; sie erzählen, oft haltlos vor Lachen, sich selbst parodierend und mit einer Offenheit, die unbefangen und hochsensibel zugleich ist«, heißt es in einer Kritik.
Ganz anders »Wenn wir an lauen Sommerabenden alle gemeinsam im Hof gesessen haben, war es schön«. Die Produktion aus dem Jahre 1986 wendet sich dem Thema Stadt-Land-Flucht zu. Eine Berliner Clique, alle um die dreißig, die sich per Zeitungsannonce kennen gelernt hat, beschließt, aufs Land zu ziehen, um dort einfacher, glücklicher und unbeschwerter zu leben. Die Utopie eines besseren Lebens geht eine Zeitlang auf. Man kauft gemeinsam einen verfallenen Hof und beginnt mit der Renovierung. Doch schon stellen sich Probleme ein. Wer fährt ausgerechnet dann in Urlaub, wenn Arbeit ansteht? Tagtäglich wird auf- und gegengerechnet, entbrannt der Streit um Hygiene, Arbeitsmoral und das liebe »Geld«. Nachdem man zunächst »Wie benebelt vom guten Mensch« war, versiegt jede Euphorie. Die Aggression eskaliert bis zur körperlichen Gewaltausübung. Als man sich »gegenseitig erschlagen will«, muss gar die Polizei schlichten.
Die Protokolle machen deutlich, dass jeder »seine« Wahrheit hat und die Schuld beim anderen sucht. Renke Korn: "Ich packte mein Tonbandgerät und meine Mikrofone ein und fuhr hin...Um die dialektische Spannung meines geplanten O-Ton-Hörstücks brauchte ich mir nicht die geringste Sorge zu machen. Aus Träumern waren bitter Enttäuschte geworden, aus Freunden Feinde, aus Zuneigung Haß, es hagelte Beleidigungen und Schuldvorwürfe, und mit einer Intensität wie nie zuvor und danach konnte ich spüren, wie unterschiedlich Menschen dieselbe Geschichte erleben und bewerten können.«
Das dritte und vierte Hörspiel dringen noch tiefer in die Privatsphäre ein. Es kommt nicht mehr eine Personengruppe, sondern jeweils nur noch eine einzelne Person zu Wort. In »Mein Vater und ich« ist es die 42-jährige »Gabi R.« Beim Ordnen des Nachlasses ihres vermeintlichen Vaters erfährt sie eher zufällig, dass der Verstorbene nicht ihr leiblicher Vater war. Wenige Tage nach dieser Entdeckung führte Korn mit ihr Tonbandgespräche. Noch stark aufgewühlt durch die neue Erkenntnis, schildert sie die Geschichte ihrer Familie, die sie nun plötzlich in einem ganz anderen Licht sieht und eröffnet Einblicke in ein Kreuzberger Arbeitermilieu. Der »Vater«, ein arbeitsloser Druckergehilfe, war nur unter Alkoholeinfluss stark - und dann unausstehlich. In der Familie war er ein Außenseiter, weil der soziale Aufstieg nicht geschafft wurde. Und gerade diesen Aufstieg wollte seine Frau um jeden Preis erzwingen. »Mein Vater und ich« ist eine Geschichte vom Lieben und Nichtliebenkönnen. Unter den hier vorgestellten Hörspielen ist es wohl das eindringlichste, weil es so nah am Leben ist.
In "Warum schreit das Kind der weißen Frau so viel?« erzählt eine Berliner Krankenschwester ihre Lebensgeschichte. Diese ist eng verknüpft mit ihrer Liebe zu dem ceylonesischen Blindenlehrer Rienzi A. Sie erzählt über ihre Probleme mit der fremden Kultur, und sie beschreibt in kaum zu überbietender Offenheit und Eindringlichkeit die Diskriminierung, die sie als Ehefrau eines Ausländers und ihre Kinder aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe zu erleiden hatten. Wie in »Mein Vater und ich« entpuppt sich die Erzählerin als unverhoffter Glücksfall, als erzählerisches Naturtalent. Statt mit Gram und Groll schildert sie mit stoischem Gleichmut, oft augenzwinkernd, sogar heiter.
«Ihr Bild stand noch viele Jahre zwischen den Bildern der anderen Kinder« ist das jüngste der hier vorgestellten Hörstücke. Es stammt aus dem Jahre 1996. Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die als 15-jährige entdeckt, dass sie ein Adoptivkind ist. Erst nach 50 Jahren findet sie ihre Mutter wieder, nach einer langen Leidensgeschichte, in der die Teilung Berlins und der Fall der Mauer eine Rolle spielen. Die Produktion ist aufwendiger gestaltet, arbeitet mit Hall- und Echoeffekten und Überblendungen. Fast durchgängig sind im ersten Teil Geräusche und Töne unterlegt. Die offensichtliche Konzession an die Hörgewohnheiten des Publikums erzeugt eine gewisse Künstlichkeit und kommen dem Genre Hörstück nicht unbedingt zugute, das in seiner spartanischen, minimalistischen Form seine unmittelbarste Wirkung erzielt.
Andererseits wird durch das Stilmittel der Wiederholung bestimmter Sätze und Passagen die konzise Regiearbeit Korns deutlich. Bei seinen Hörstücken handelt es sich keineswegs um lineare 1: 1-Aufnahmen der Gespräche, auch wenn beim Hörer der Eindruck entsteht, es handele sich gleichsam um einen Live-Mitschnitt. Die Tonbandschnipsel sind vielmehr mit höchster Präzision montiert und so komponiert, dass interne Spannungsbögen entstehen. Der Hörer wird - wie bei einem Krimi - »auf die Folter gespannt« und erst nach und nach in Hintergründe und Katastrophen »eingeweiht« - ein letztlich erschütterndes Hörerlebnis, das unter die Haut geht und dem man sich kaum entziehen kann.
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