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Flucht nach Hinterweisenthal

Flucht nach Hinterwiesenthal

BR, HR, ORF, DW  v. 27. - 30. 11. 71

“Begangen wird die Flucht des Chemikers Dr. Malte. Dieser zieht aus deprimierenden Erfahrungen eine wahrhaft weltflüchtige Konsequenz. Seine Frau ekelt ihn mit ihren gesellschaftlichen Ambitionen an, seine Geliebte will von ihm nichts als Geld, um einen Kosmetik-Salon zu eröffnen,sein Chef versucht Hi-Wi1ihn mit einer Beförderung zu bestechen, dem Aufsichtsrat des chemischen Unternehmens einen frisierten Bericht über die Geschäftsaussichten vorzulegen, seine Kollegen schließlich sind auch nur am eigenen Fortkommen interessiert und scheren sich nicht um die ausbeuterischen Methoden der Firma.

Malte also entschließt sich, dieser verlogenen Welt den Abschied zu geben und zieht sich in eine hinterwäldlerische Idylle, eben das Hinterwiesenthal des Titels, zurück.  Aber dort, wo die Zurückgebliebenen auch von nichts anderem träumen als den Segnungen des Kapitals, wird er von einem Kollegen aufgespürt. Dessen Versuch, Malte ins bürgerliche Arbeitsleben zurückzuholen, scheitert ebenso wie der dem gleichen Zweck dienende Besuch seiner Frau, seines Anwalts und seines Chefs.  Schließlich wird Malte - so scheint es - entmündigt und landet im Irrenhaus.

An diesem Punkt kippt das Stück, dessen Realitätsebenen von Anfang an nicht eindeutig sind, um. Und von diesem Umschlag her, seiner dramaturgischen Bedingtheit und seiner Konsequenz, muß man die »Flucht nach Hinterwiesenthal« verstehen.  Denn alles, was an Handlung geschieht, ist die Mutmaßung eines Kollegen von Dr. Malte. Malte nämlich, so beginnt das Stück, ist nicht zur Arbeit erschienen, und daran knüpfen sich allerlei Gerüchte, die ein Spektrum zwischen Herzinfarkt und Unterschlagung ausfüllen. Maltes Kollege Borrow versucht nun, sich in die Lage des nicht zur Arbeit Erschienenen zu versetzen, schlüpft in die Rolle Maltes und läßt jene Stationen spielen, von denen vorhin die Rede war.

Und am Ende des Stücks, nach der Szene im Irrenhaus, wird der Bogen zum Anfang zurückgeschlagen: Malte ist keineswegs verschwunden; er sitzt mit Arbeitern zusammen und berät die Durchfiihrung eines Streiks.  Der handlungsmäßige Inhalt des Stücks entpuppt sich also als die Anhäufung von Mutmaßungen, als die Projektion der Ansichten verschiedener Figuren über Malte auf eben diesen. Und das Verfahren hat Sinn: es belegt nämlich schlagend, wie ein Mann das Establishments - unwillkürlich drängt sich der Rücktritt des Staatssekretärs Rosenthal aus dem bundesrepublikanischen Wirtschaftsministerium als politische Konkretion dieses Bühnenstücks auf - von der Gesellschaft zum dümmlichen Sozial-Utopisten gestempelt wird, sobald er sich mit den sozialen Gegebenheiten seiner Umgebung nicht mehr einverstanden erklärt.

Unter diesem Blickwinkel entpuppen sich die Klischees der Handlung als erschreckende Realitätspartikel, wird der Mechanismus, der unsere Gesellschaftsordnung aufrechterhält, sozusagen wertfrei auf die Bühne gebracht. Erst der Moment des Umkippens der Mutmaßungen in das visionäre Bild von der Irrenanstalt und sogleich zurück in die Realität des Anfangs macht den Kunstgriff Renke Korns sinnenfällig: hier wird nämlich kein ideologisches, mit Verfärbungen arbeitendes Theater gezeigt, sondern ein Abbild unserer Innenwelt.

Die am Dortmunder Stadtheater unter Mitarbeit Korns zustandegekommene Uraufführung in der Regie von Peter Borchardt und der Ausstattung von Werner Hutterli muß als kongenial bezeichnet werden. Schnelle Szenenwechsel mit sauber funktionierenden Schienengerüsten am Anfang, eine immer stärker werdende Erstarrung nach Maltes Flucht, die Posierung der Hauptfigur auf einem grünen Hügel unter einer Böcklin-Landschaft, ein Leichentuch schließlich, das sich - im Anstaltsbild - über die Szenerie herabsenkt, das alles ließ den inneren Ablauf des Stücks zu einem Faszinosum werden. Und da jede Rolle optimal besetzt war, konnte das Dortmunder Schauspiel einen wichtigen Erfolg für sich verbuchen.”  Ulrich Schreiber

 

Foto: Helga Kirchberger

 

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